»Seit über einem Jahr habe ich die Sonne nicht mehr gesehen.«

Tagein tagaus muss die 16-jährige Kanchhi* Freier empfangen. Sie ist eines der hübschesten Mädchen im Bordell, in dem sie seit über einem Jahr zur Prostitution gezwungen wird. Manchmal muss sie über 20 Freier am Tag empfangen. »Am Anfang war es entsetzlich schmerzvoll, und ich blutete oft. Doch mit der Zeit hat sich mein Körper daran gewöhnt. In meinem Herzen jedoch fühle ich den furchtbaren Schmerz bis heute.« Diese tragischen Worte schrieb Kanchhi in ihrer Geschichte nieder, gab sie einem Freier mit und betete, dass ihr Hilfeschrei erhört würde.

„Geduld, Überzeugungskraft und Einfühlungsvermögen sind die wichtigsten Voraussetzungen, die wir für unsere Arbeit brauchen.“

Ashok, verdeckter Ermittler der Rescue Foundation

Kanchhi wurde zusammen mit ihrer Schwester Deepa* aus Nepal nach Indien verschleppt und an ein Bordell in Puna verkauft. Die Schlepper waren zwei junge Nepali aus dem Nachbardorf, mit denen sich die Mädchen angefreundet hatten. Kanchhi berichtet: »Suman* und sein Freund waren fast täglich mit meinem Bruder zusammen und kamen oft zu unserer Familie zu Besuch. Eines Tages bot Suman meiner Mutter an, mich und meine Schwester nach Indien mitzunehmen und uns dort einen Job zu verschaffen.«Ein Job in Indien ist für viele nepalesische Mädchen ein Traum, und so klingt jedes Angebot zunächst vielversprechend und attraktiv. Kanchhi und Deepa reisten gemeinsam mit Suman nach Indien. Sie ahnten nicht, dass diese Reise ihr Leben für immer verändern würde. Nach einer langen Zugreise erreichten die Mädchen Puna. Als Suman gemeinsam mit ihnen ein Haus im Rotlichtviertel betrat, spürten sie zum ersten Mal, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät. Kanchhi und Deepa waren an ein Bordell verkauft worden. Die Bordellbesitzerin kam zu ihnen und sagte: »Ich habe viel Geld für euch bezahlt. Ab heute werdet ihr tun, was ich euch sage. Wenn ihr euch weigert, werde ich euer Leben zur Hölle machen!«

Trotz dieser Warnung war Kanchhi nicht bereit, Freier zu empfangen. Doch ihr Widerstand sollte nur von kurzer Dauer sein. Sie wurde mit Stöcken zusammengeschlagen, brutal vergewaltigt und für drei Tage ohne Essen in einen dunklen Raum gesperrt. Mit Folter wird jeder Wille gebrochen. Von diesem Moment an tat sie das, was man ihr befahl. Tag für Tag bereitete sich Kanchhi auf ihre Kunden vor. Sie schreibt: »Jeder, der zu mir kommt, sieht mein Lächeln, das all das Leid und die Sorgen verbirgt. Ich lächle, weil ich lächeln muss. Ich trage Make Up, weil ich es tragen muss. Niemand versucht hinter die Maske zu sehen, um zu erkennen, wie mein Leben wirklich aussieht.«

In erschütternden Worten fährt sie fort: »Seit über einem Jahr habe ich die Sonne nicht mehr gesehen. Seit ich vor 14 Monaten hierher kam, haben sie mir kein einziges Mal erlaubt, das Haus zu verlassen. Ich konnte nicht einmal durch ein Fenster nach draußen gucken. All meine Träume sind durch zwei Menschen zerstört worden, denen ich geglaubt und vertraut habe. Jeder kann mich für 120 Indische Rupien (circa 1,80 Euro) vergewaltigen und seine sexuellen Begierden an mir auslassen. Mein Körper, mein Leben und meine Würde sind zerstört. Wenn ich nicht gerettet werde, bringe ich mich um.«

Kanchhi nahm all ihren Mut zusammen und schrieb ihre ganze Geschichte auf – woher sie stammt, wie sie nach Indien kam und wie ihr trauriger Alltag im Bordell aussieht. Ihre Geschichte ist ein verzweifelter Hilfeschrei, von dem sie hoffte, dass er draußen, in der Welt der Freiheit, erhört würde.

Samstagabend im Rotlichtviertel Budwar Peth in Puna. Nasik* besucht mit seinen Freunden eines der vielen Bordelle inmitten des Stadtzentrums. In einer winzigen Kabine trifft er auf Kanchhi. Sie ist wunderschön und lächelt Nasik an. Als sie beginnt sich auszuziehen, bittet Nasik das Mädchen, sofort aufzuhören und äußert den Wunsch, sich einfach nur etwas mit ihr zu unterhalten. Etwas irritiert setzt sich Kanchhi zu ihm. Schon nach kurzer Zeit entwickelt sich ihr Gespräch in eine nette Unterhaltung und die beiden merken nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Nach einer Stunde ist Nasiks Zeit abgelaufen, und er muss gehen. Für Kanchhi war dies eine ganz besondere Begegnung. Nicht alle Kunden sind so höflich und zurückhaltend, und sie bittet Nasik, bald wiederzukommen.

Schon eine Woche später sehen sich die beiden wieder. Kanchhi schöpft langsam Vertrauen in Nasik und schildert, dass sie und ihre Schwester Deepa verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden. Betroffen von ihrem Schicksal verspricht Nasik, Kanchhi und Deepa zu helfen. Bevor er geht, gibt ihm Kanchhi ihre Geschichte mit, die sie aufgeschrieben hat.

Nasik leitet Kanchhis Geschichte an die Rescue Foundation in Mumbai weiter. Die Organisation führt gezielt Rettungseinsätze in den Rotlichtvierteln Mumbais und benachbarter Städte durch und befreit Mädchen und Frauen, die in den Bordellen festgehalten und zur Prostitution gezwungen werden. Für jede Information, die zur Rettung eines verschleppten Mädchens führt, zahlt die Rescue Foundation eine Belohnung. Auf diese Weise hat die Rescue Foundation in den letzten Jahren ein dichtes und zuverlässiges Informantennetz in den Rotlichtvierteln aufbauen können.

Gemeinsam mit der Polizei hat die Rescue Foundation am 6. Januar 2008 eine Razzia durchgeführt und Kanchhi und Deepa befreit. Zusammen mit zehn anderen nepalesischen Mädchen, die ebenfalls in den letzten drei Monaten aus Bordellen in Puna und Mumbai befreit werden konnten, wurden die beiden Geschwister Anfang Februar 2008 von der Rescue Foundation nach Nepal zurückgebracht. Das Wiedersehen mit ihrer Mutter, die geglaubt hat, ihre Kinder für immer verloren zu haben, war sehr bewegend.

Heute leben Kanchhi und Deepa wieder in ihrem Dorf und sind fest entschlossen, ihr Schicksal nicht zu verschweigen und in den Schulen der umliegenden Dörfer zu berichten, was ihnen widerfahren ist. »Tausende Mädchen werden in den Bordellen gefangen gehalten. Die meisten von ihnen sind, so wie wir auch, auf falsche Versprechungen hereingefallen. Das, was uns passiert ist, soll anderen erspart bleiben!«

* Namen geändert