Kolkata – die aus 16 Millionen Einwohnern bestehende Megacity im Osten Indiens. Rund eine Millionen Menschen leben auf der Straße, weitere Millionen in Elendsvierteln. Im Stadtteil Kalighat, in unmittelbarer Nähe des von Mutter Teresa gegründeten Sterbehauses und am Rande eines riesigen Slums und Rotlichtviertels, sitzt unsere Partnerorganisation New Light.
Die Inderin Urmi Basu gründete New Light im Jahr 2000 und bietet Kindern und Jugendlichen Schutz vor Missbrauch und Gewalt. Die Organisation besteht aus einer Kindertages- und nachtstätte, einem Schutzzentrum für Mädchen und seit 2009 auch aus einer Wohngemeinschaft für Mädchen zwischen 18 und 25 Jahren, dem „Sonar Tori“.
Stephanie Walter, 27 Jahre alt, Studentin für Friedens- und Konfliktforschung, war diesen Sommer sechs Wochen lang als Praktikantin bei New Light und hat ihre Eindrücke über das „Sonar Tori“ für uns zusammengefasst:
Mit Energie und Tatendrang brechen die beiden Bewohnerinnen des „Sonar Tori“, Pooja Bose und Rina Roy, mit mir zu einer Begehung des Slum- und Rotlichtviertels auf. Wir laufen bei drückender Hitze in den engen und verwinkelten Gässchen von Tür zur Tür, immer auf der Suche nach jungen Frauen, die wir über die Arbeit von New Light informieren möchten. Pooja und Rina stammen selbst aus schwierigen familiären Verhältnissen, ihre Mütter arbeiteten ebenfalls als Prostituierte im Red Light District von Kalighat. Durch ihre offene, freundliche und authentische Art haben die beiden sofort Zugang zu den Slumbewohnern. Pooja spricht spontan eine junge Frau an, die plötzlich aus einer kleinen Slumhütte auftaucht, und informiert sie über die Arbeit von New Light und erzählt auch von ihrem eigenen Leben. Schnell gewinnt sie das Vertrauen der erst 21-jährigen Slumbewohnerin, die von ihrem „Freund“ berichtet, der versprochen hatte, sie zu heiraten. Da dies im streng konservativen Indien ohne die Zustimmung beider Familien nicht ohne weiteres möglich ist, ließ sie sich überreden mit ihm fortzugehen. Seitdem arbeitet sie als Prostituierte für ihn und wurde von ihrer Familie verstoßen. Pooja erzählt ihr auch vom „Sonar Tori“, dem „goldenen Boot“, einer Institution von New Light, die für diese jungen Frauen als sicherer Hafen dient.
Diese Wohngemeinschaft, der momentan elf Mädchen angehören, gibt ihnen die Chance, während ihrer Ausbildung oder ihres Studiums ein eigenverantwortliches Leben führen zu können. Die Organisationsleitung der Wohngemeinschaft obliegt der 24-jährigen Bewohnerin Sima Halder. Sie teilt unter anderem ein, wer wann mit Kochen oder Saubermachen an der Reihe ist. Sima ist nämlich selbst intensiv bei New Light eingebunden. Sie unterrichtet von Montag bis Samstag an der Montessori-Schule von New Light die Zwei- bis Fünfjährigen und sonntags studiert sie an der Universität Sozialwissenschaften. Sie möchte noch in diesem Jahr den Master-Abschluss erlangen.
Die jungen Frauen betonen immer wieder, wie wichtig es für sie ist, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. Zugleich beweisen die jungen Bewohnerinnen des „Sonar Tori“ viel Verantwortungsgefühl und Empathie. Die 18-jährige Bulu Biswas beispielsweise kümmert sich nach ihrer Ausbildung nun als Krankenschwester um die Kinder bei New Light. Krishna Sarkar möchte nach dem Abschluss ihres Studiums ihrer Familie finanziell helfen. Ihr Vater hatte die Familie mit 3 Kindern kurz nach Krishnas Geburt verlassen. Gegenüber diesen beiden selbstbewussten Mädchen wirkte Mamoni geradezu scheu, als ich sie das erst Mal traf. Zögerlich erzählt mir die 19-Jährige von ihrem Lieblingsfach in der Schule und entschuldigt sich immer wieder für ihr gebrochenes Englisch. Supriya springt dann für sie ein und erzählt, dass Mamoni erst seit drei Monaten im „Sonar Tori“ lebt. Die beiden teilen sich mit Krishna eines der vier Zimmer im Apartment. Auf meine Nachfrage, ob es denn schwierig sei, sich mit 11 Mädchen zwei Badezimmer zu teilen, meinen sie lachend und einstimmig, es sei alles eine Organisationsfrage. Sie strukturieren ihren Tagesablauf nach den notwendigen Gegebenheiten. Vormittags erledigen sie die anfallenden Hausarbeiten. Diejenigen, die noch zu Schule gehen, besuchen von 11 bis 16.30 Uhr den Unterricht. Abends, wenn auch die anderen von ihrer Arbeit zurück sind, essen sie gemeinsam zu Abend und schauen dazu eine „Bollywood daily soap“. In der Regel bleibt ihnen nur der Sonntag, um ihren Hobbies wie Tanzen oder Basketball nachzugehen.
Die Fröhlichkeit und Herzlichkeit der jungen Frauen drängen die Probleme und Schwierigkeit in den Hintergrund. Nur ab und zu treten sie wieder zum Vorschein, etwa die enorme Benachteiligung des weiblichen Geschlechts in der indischen Gesellschaft. Mitunter werden Pooja und Rina auf ihrer Suche nach einer Anstellung im Hotelgewerbe mit der Begründung abgelehnt, weil sie als junge Frauen nicht für die Nachtschichten einsetzbar sind und die Arbeitgeber daher Männer bevorzugen. Allerdings gibt ihnen Teresa Shaws Geschichte den Mut zurück. Sie hat es geschafft, in einem der besten Hotels Indiens als Rezeptionistin ein Praktikum zu bekommen. Nun hofft sie übernommen zu werden.
Wir wünschen den elf Mädchen vom „Sonar Tori“, weiterhin viel Erfolg mit Hilfe von New Light, ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben fern der Rotlichtviertel von Kalightat zu gehen.
Stephanie Walter und Urban Philippek