Eine lange Reise, eine neue Zukunft

Im Mittelpunkt der Arbeit von New Light stehen die Kinder von Frauen, die in der Prostitution leben. Immer häufiger muss sich die Organisation aber auch um junge Mädchen kümmern, die aus Nepal in die Rotlichtviertel Kolkatas verschleppt wurden.

„Menschenhandel und Zwangsprostitution gehen uns alle an!“

Leitmotiv 2009 der BONO-Direkthilfe e.V.

An einem Tag im Sommer 2008 – 4 Uhr morgens: Langsam erwacht die 15-Millionen-Metropole Kolkata zum Leben. Auch in der Howrah Station, einem der wichtigsten Bahnhöfe der Megastadt, beginnt hektische Betriebsamkeit, die im Laufe des Tages zu einem kaum zu überblickenden Chaos werden wird. In einer Ecke des imposanten Gebäudes aus der Kolonialzeit, das jeden Tag von über einer Million Menschen genutzt wird, kauern eng aneinander geschlungen Maiya und Pushba*, 12 und 13 Jahre alt. Ungefähr zwei Wochen ist es her, dass sie Kathmandu verlassen haben. Zwei Wochen, in denen sie Dinge erlebt haben, die sie sich in ihrem schlimmsten Albtraum nicht hätten vorstellen können. Jetzt sind sie alleine, sprechen kein Bengali oder Hindi und wissen nicht mehr weiter. So klammern sich die beiden aneinander und weinen vor sich hin, während die ersten Pendler auf dem Weg zur Arbeit an ihnen vorbei hasten. Für sie ist dies die Endstation einer langen Reise.

Voller Freude sind Maiya und Pushba zwei Wochen zuvor aus Kathmandu aufgebrochen. Zusammen waren sie bei Pushbas ältere Schwester und deren Ehemann aufgewachsen, die Maiya nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen hatten, und immer unzertrennlich gewesen. Eine Schule haben sie nie besucht, denn hierfür reichte das wenige Geld, dass Pushbas Schwester und ihr Mann mit Gelegenheitsjobs verdienen konnten, nicht. Als sie gerade einmal acht und neun Jahre alt waren, mussten sie anfangen, auch ein paar Rupien zu verdienen – als Müllsammler. So lernten sie schnell andere Kinder kennen, die wie sie ihre Tage auf der Straße verbrachten. Als sie etwas älter sind, beginnen drei Jungen sich ganz besonders um sie zu kümmern. Manchmal bringen sie etwas zu Essen mit, manchmal ein kleines Geschenk. Und sie sind es auch, die schließlich vorschlagen, einmal etwas Neues zu sehen und zusammen ein Picknick außerhalb Kathmandus zu machen. Stunden, nachdem der Bus Kathmandu verlassen hat, als es längst völlig dunkel ist, werden Maiya und Pushba nervös. Doch die Jungen beruhigen sie, man werde nicht nur ein Picknick machen, sondern einen viel schöneren Ort besuchen. Als die Sonne wieder aufgeht, hat der Bus Karkabhitta erreicht, eine Grenzstadt im Südosten Nepals. Doch die Jungen trauen sich nicht, mit den Mädchen die Grenze zu überqueren – zu streng erscheinen ihnen die Kontrollen. So geht die Odyssee weiter, in einem anderen Bus, Stunde um Stunde Richtung Westen. In Birgunj angekommen, einer weiteren kleinen Grenzstadt, sind die Mädchen den Tränen nahe. Nun werden ihre Begleiter wütend, beschimpfen sie, schlagen sie. Erst Wochen später werden Maiya und Pushba unter Tränen erzählen können, was in der folgenden Nacht in einem kleinen Hotel passiert: Wie sie ihre vermeintlichen Freunde vergewaltigen, wieder und wieder, die ganze Nacht hindurch.

Niemand hört in dieser Nacht ihre Schreie, und so fügen sie sich in ihr Schicksal. Am nächsten Morgen wird die Grenze überquert, und es geht mit dem Zug weiter nach Kolkata. Dort angekommen, sehen Maiya und Pushba zum ersten Mal die Howrah-Station. Ihre Begleiter aber sind auf einmal verschwunden, nur um kurz darauf von einem nepalesischen Ehepaar abgelöst zu werden: Sie sollten mitkommen, denn sie müssten nun arbeiten, wird ihnen gesagt. Maiya und Pushba wurden verkauft. So erreichen sie Sonagachi, eines der Rotlichtviertel Kolkatas. Trotz allem haben sie nun Glück: Sie werden nicht sofort an ein Bordell weiterverkauft, sondern müssen zunächst in dem Restaurant des nepalesischen Paares arbeiten, denn die beiden wollen mit potentiellen Kunden noch den besten Preis aushandeln. In ihrer Verzweiflung nehmen Maiya und Pushba nach einigen Tagen ihren ganzen Mut zusammen: Mitten in der Nacht zwängen sie sich durch ein kleines Fenster hinaus und schaffen es, sich quer durch Kolkata zurück zur Howrah-Station durchzuschlagen – dem einzigen Ort, den sie in der Megastadt kennen.

Es sind Erleichterung und Verzweiflung zugleich, die ihre Tränen fließen lassen, während sie am Rand der Pendlerströme sitzen. Schließlich spricht sie ein Teeverkäufer an, der erkannt hat, dass sie aus Nepal stammen. Er spricht mit ihnen und informiert dann das nepalesische Konsulat. Dort aber ist man auf solche Fälle weder vorbereitet, noch dafür ausgerüstet. So klingelt kurze Zeit später bei New Light das Telefon, und Urmi Basu, Gründerin und Leiterin der Organisation, zögert keine Sekunde: Sie fährt sofort in das Konsulat. Noch Monate später ist die Erschütterung in ihrer Stimme zu spüren, wenn sie berichtet, wie sie dort Maiya und Pushba traf: »Als ich ankam, spielten die beiden mit ein paar alten, liegen gelassenen Puppen. Sie hatten aus ein paar Tüchern Betten gebaut, in denen die Puppen schlafen sollten. Vor mir sah ich zwei kleine Kinder. Kinder, die vor wenigen Tagen ins Rotlichtviertel verkauft worden waren.“
Es ist dem Einsatz von New Light zu verdanken, dass kein Rotlichtviertel und auch nicht die Howrah-Station zur Endstation für Maiya und Pushba wurde. Nach einigen Wochen bei New Light konnten sie nach Nepal zurückkehren, wo die beiden von Maiti Nepal aufgenommen wurden. So liegt am Ende ihrer langen Reise nun der Beginn einer neuen Zukunft.

* Namen geändert