Die unendliche Traurigkeit ihrer Augen

Sie wissen, wo sie stehen müssen. Sie kennen die Straßenkreuzungen an den Touristenstrecken in Kathmandu. Sobald hier eine Ampel auf Rot springt, und ein Taxi mit Touristen stoppt, sind sie da: Die Straßenkinder Kathmandus. Schmutzig und in von Dreck starrender Kleidung, junge Mädchen oft mit ihren noch jüngeren Geschwistern auf dem Arm, betteln sie um ein paar Rupien.

„Ohne Bildung haben diese Kinder keine Chance, der Armut zu entkommen.“

Shobha Rai, Gründerin von Nepal Matri Griha

So nah sind sie in diesem Moment den Touristen, nur durch eine Fensterscheibe getrennt und doch Welten voneinander entfernt. Wer sind diese Kinder, warum leben sie auf der Straße, was wird aus ihnen werden? Bevor diese Fragen, die so dringend nach einer Antwort verlangen, auch nur gestellt werden können, rollt das Taxi schon wieder, und es geht zum Ausspannen ins Hotel, zum Shopping in das Touristenviertel Thamel oder weiter zur nächsten Sehenswürdigkeit. Die Kinder bleiben zurück und in Erinnerung allenfalls die unendliche Traurigkeit ihrer Augen.

Sieht man die Kinder, die frühmorgens zur Schule von Nepal Matri Griha strömen, könnte der Kontrast kaum größer sein. In ihren einfachen, aber blitzsauberen Schuluniformen, mit Büchern und Heften unter dem Arm und einem herzlichen Lachen im Gesicht, scheinen auch sie in einer ganz anderen Welt zu leben als ihre Altersgenossen, die jeden Tag auf den Straßen Kathmandus betteln. Doch dieser Eindruck trügt: Viele der Kinder, die nun so fröhlich zur Schule laufen, sind nur wenige Minuten vorher in kleinen Verschlägen aufgewacht, die kaum die Bezeichnung Hütte verdienen. Nach einer Nacht, eng aneinandergedrängt mit zwei, drei Geschwistern auf einer Matratze, haben sie sich schnell an einem öffentlichen Brunnen mit verschmutztem Wasser gewaschen und ein kleines Frühstück gegessen, das einen hungrigen Kindermagen kaum satt machen kann. Für viele von ihnen wird das Schulessen bei Nepal Matri Griha die einzige richtige Mahlzeit des Tages sein. Aber sie gehen zur Schule, sie können in diesem Augenblick ganz einfach Kinder sein, und ihre Freude hierüber ist spürbar.

Selbstverständlich ist es aber nicht, dass über 350 Kinder, die in tiefer Armut leben, Tag für Tag die Schule der Organisation besuchen. Viel Überzeugungsarbeit ist nötig, um Eltern, die oft selber nicht einmal Lesen und Schreiben können und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen müssen, klar zu machen, welche Chance der Schulbesuch für ihre Kinder bedeutet. Immer wieder fehlen einzelne Kinder, weil ein Familienangehöriger krank ist und betreut werden muss, oder weil ihre Eltern es sich anders überlegt haben und meinen, ihre Kinder sollten lieber etwas für die Familie hinzuverdienen. Aber die Lehrer von Nepal Matri Griha sind hartnäckig: Sie wissen, dass nur eine dünne Linie die Kindern, die bei der Organisation die Chance einer Schulausbildung erhalten und die, die auf den Straßen Kathmandus betteln, trennt.

Fehlen Kinder, gehen sie deswegen zu Hausbesuchen in die Familien und nehmen sich viel Zeit, um alle Probleme zu besprechen. Dann wird auch schon mal ganz einfach ein Sack Reis gekauft, damit die Familie erst einmal versorgt ist, und die Kinder wieder zur Schule gehen können. Shobha Rai, Gründerin und Leiterin der Organisation, ist überzeugt: »Ohne Bildung haben diese Kinder keine Chance, der Armut zu entkommen.»

Hätte es geholfen, wenn man den Straßenkindern wenigstens einige Rupien gegeben hätte? Wohl kaum, denn längst ist das Betteln in vielen Gegenden Kathmandus von Banden organisiert. Und selbst wenn die Kinder das Geld behalten können, kaufen sie statt Lebensmitteln nur allzu oft lieber billigsten Klebstoff, um im Rausch einige Stunden ihre Sorgen zu vergessen. Doch dank des fröhlichen Lachens der Kinder bei Nepal Matri Griha ist es nicht nur die Traurigkeit der Straßenkinder, die im Gedächtnis bleibt. Es ist auch das Wissen, dass eine andere Zukunft für die Kinder Kathmandus möglich ist.